Ludwig Pfau (1821-1894) · Briefedition
Datum: 0. 6. 1850 (?)
Adressat: Carl Mayer
Zürich, den Juni 1848 [Anm.: Das Datum ist falsch. Wie aus dem Inhalt hervorgeht, ist der vorliegende Brief sicher nach demjenigen vom 5. Mai 1850 [...] geschrieben; vermutlich ist statt Juni 1848 Juni 1850 zu setzen.]
Mein lieber Mayer!
Die Fortsetzung meiner Epistel läßt etwas lang auf sich warten; aber erstens verstauchte ich den Fuß, mußte im Bett liegen und kalte Umschläge machen, und dann wartete ich von Tag zu Tag auf Geibels Gedichte, die mir mit andern Büchern von Haus zukommen sollten, und die ich Dir mitschicken wollte, da Du sie brauchst, im Fall Du auf meine Vorschläge betreffs der Kritik eingehen willst.
Was Du über Form etc. meiner Gedichte zu sagen hast, mußt Du selbst spüren, darüber kann ich nichts melden, nur so viel muß ich sagen, daß ich in denselben nie nach glänzenden Bildern, phantastischen Einfällen etc. haschte, sondern daß ich, dem schwäbischen Dichtercharakter getreu, bloß der Empfindung den reinsten, einfachsten Ausdruck zu geben suchte. Meiner Ansicht nach ist die Poesie vor allem eine Kunst, und es handelt sich hier nicht bloß um einzelne glückliche Einfälle, sondern um ein festes und organisches Zusammenschließen aller Glieder und den Aufbau, die Ökonomie des Gedichts. Es darf kein Wort zu viel und keines zu wenig da sein; das ganze Gedicht muß mit Naturnotwendigkeit aus sich selbst hervorwachsen. Diesen Begriff hab ich von einem Gedicht, und diesen suchte ich auch zu realisieren, Du wirst deshalb meistens kleine, in sich abgeschlossene, fest zusammengehämmerte Gedichte finden, ohne Ranken und Auswüchse. Ich halte es in der Beziehung mit Goethe und Uhland und bin in der Poesie so ziemlich konservativ, wenn ich in der Politik noch so umstürzlerisch bin. Die neuere Manier, wo man mit einer Anhäufung von Bildern, Phantasiewundern und Vergleichungen zu wirken sucht, mag zwar auch ihr Angenehmes haben, aber sie ist nicht nach meinem Geschmack und scheint mir eine quantitative, aber keine qualitative Poesie zu sein.
Was ich als Eigentümlichkeit hervorheben muß, ist die Befreiung von aller Transzendenz. Wenn das Volkstümliche und Einfache der Form da und dort an die schwäbische Schule erinnert, so ist dagegen der Inhalt ein wesentlich verschiedener. Die schwäbischen Dichter stehen samt und sonders auf der christlich-germanischen "breiten Grundlage". Es ist das Jenseits, die ewige Seligkeit, das Wiedersehen nach dem Tode, die christliche Demut und Weinerlichkeit, die da und dort hervorlugt. Bei Uhland weniger unmittelbar, doch schimmert sie auch durch, bei Kerner aber desto häufiger und offenkundiger. Die ganze Grabessehnsucht und die Schmerzseligkeit hat etwas von der mittelalterlichen Askese. Wenn ich für meine Gedichte irgend einen Vorzug ansprechen möchte, so wäre es der, daß sie einen diametralen Gegensatz zu dieser Richtung bilden. Aus ihnen ist das spezifisch Christliche ganz entfernt, und der Hintergrund ist die freie Weltanschauung, wie sie aus der neueren Philosophie hervorgegangen ist. Der menschliche Geist ist die höchste Gottheit, die hier über der Poesie schwebt, der Mensch, der stirbt, kehrt in den Schoß der großen Mutter zurück, und der Schmerz ist nicht eine christliche Buße und Prüfung, sondern der Kampf des Individuums mit der Welt, der Kampf, der notwendig ist, damit sich die individuelle Kraft entwickle und stärke, und die Persönlichkeit sich abrunde und zu ihrer vollen Geltung gelange. Der philosophische Hintergrund, den zuletzt jede Poesie hat, ist hier nicht die ewige Seligkeit und die persönliche Gottheit, sondern die unendliche Welt und die große Natur mit ihren ewigen Gesetzen. Und wenn in den schwäbischen Dichtern der Mensch immer im Kampf mit der Natur liegt, ein ewiges Sehnen nach der Natur hat, von der er sich losgerissen fühlt, was wieder in Kerner besonders deutlich hervortritt, und was eine Folge des christlichen Standpunkts ist, weil das Christentum die Natur (die Materie) als etwas Schlechtes und Ungöttliches verwirft, so ist bei mir der Mensch durchaus eins mit der Natur; er fühlt sich als ein Teil derselben Welt, die auch die Erzeugerin der übrigen Natur ist, und der Kampf entsteht hier bloß aus der Berechtigung der Individualität, welche sich gegen die Schranke wehrt; es ist also hauptsächlich der Kampf des Menschen gegen die Menschenwelt, der Kampf der Menschheit gegen ihre Unterdrücker. Das ist der demokratische Keim, der auch in den anscheinend friedlichen Gedichten liegt, und der in den politischen etc. nur zur sichtbareren Entfaltung kommt. Diese Andeutungen werden Dir genügen, um ein Ganzes daraus zusammenzukochen nach Deinem eigenen Rezept. Diese "breite demokratische Grundlage", diese immanente Weltanschauung müßte man besonders hervorheben, da sie meines Wissens nirgends bei einem neuen Poeten mit dieser Bestimmtheit und Klarheit hervortritt. Wohlverstanden, ich spreche hier nicht vom politischen, sondern vom allgemeinen Teile der Gedichte, der seine Stoffe aus dem Leben der Liebe und der Natur holt. Die neuen Ideen und Anschauungen werden zwar heutigen Tags von vielen geteilt, aber es dauert immer eine Zeit, bis der Mensch eine neue Weltanschauung, die er sich durch das Denken, durch die Vernunft aneignet, so in sich aufgenommen hat, daß sie nicht mehr bloß Gedanke, sondern daß sie Gefühl in ihm geworden ist, daß sein Gemütsleben, seine Gefühlsweise in Harmonie mit seiner Denkweise kommt. Daher die Zerrissenheit, das Schwanken, die Unzufriedenheit Vieler; ihre Vernunft hat mit der alten Weltanschauung gebrochen, sie begreifen, daß es keinen persönlichen Gott, keine persönliche Fortdauer nach dem Tode geben kann, mit ihrem Gefühl aber stecken sie noch bis an den Hals im Glaubenssumpf; die ganze Erziehung, die Eindrücke der Kindheit etc. werden sie nicht los, sie können nicht unmittelbar an die Natur herantreten und die Wahrheit fühlen, wie sie sie denken können, und so sind sie Weltschmerzler oder werden nach langen Kämpfen wieder Pietisten. Dieser Gegensatz ist hier durchaus überwunden, die Kämpfe des Gedankens sind bereits in Kämpfe des Gefühls umgeschlagen, und auch im Kampfe fühlt sich der Menschengeist als einen Teil der Natur und weiß so zur Harmonie zu gelangen. Sapienti sat.
Jetzt noch etwas. Ein Interesse weiter würde Deine Arbeit erhalten, wenn Du eine kleine Parallele mit Geibel an der geeigneten Stelle anbringen würdest. Geibel ist nämlich der gefeierte Poet der "Allgemeinen Zeitung" [Die Augsburger "Allgemeine Zeitung": das große und weitverbreitete Blatt gemäßigt liberalen Charakters, von allen Radikalen bekämpft], der Gothaer [Die "Gothaer": die etwa 150 erbkaiserlich gesinnten Mitglieder der deutschen Nationalversammlung, die sich auf einer Tagung in Gotha, 26.-28. Juni 1849, dahin resignierten, die preußische Unionspolitik zu unterstützen. Die Demokraten sahen in ihnen Abtrünnige der Volkssache (vgl. Alfred Stern: Geschichte Europas 1815-1871, VII/401f.)], der "besten Männer" überhaupt. Vor einigen Monaten ist in einer Beilage zur "Allgemeinen" ein Artikel über ihn gekommen, der ihn in den Himmel erhebt, in dem namentlich auch seine politischen Gedichte resp. sein echter Freiheitssinn gepriesen wurde. [Anm.: In Betracht kommen Geibels "Zeitstimmen" (1841) und "Juniuslieder" (1848). "König Roderich" erschien 1844. Das Jahresgehalt Friedrich Wilhelms IV. empfing Geibel 1843. - Vermutlich bezieht sich Pfau auf auf einen Artikel von R. S[chreiber]: Emanuel Geibels Juniuslieder. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg. 1850, Nr. 41 (10. Februar), Beilage, S. 649-650] Du lieber Gott, ein Freiheitssinn, den die "Allgemeine" preist! Ein Poet, der von der Germania singt und sich vom König von Preußen 300 Taler zahlen läßt. Wie gesagt, eine Parallele wäre hier von Interesse, und man muß den Götzen der Bourgeoisie auch die Larve abreißen. Ich weiß nicht, in wie weit Du Geibels Gedichte kennst. Es sind manche hübsche darunter, die mir selber gefallen, Geibel hat sehr viel Form und namentlich Musik der Sprache, das ist gar nicht zu leugnen; aber auf der andern Seite ist ebenso wahr, daß fast alles Form ist, daß selbst der Inhalt nichts als Form ist. Es ist lauter allgemeines, in schönen Versen verklingendes Zeug. Hier ist keine strebende Persönlichkeit, der die Gedichte sozusagen reif vom Baume fallen; Geibel ist gar nichts als Versemacher; wie er überhaupt ein Mensch ohne Intelligenz ist, so lebt er auch bloß, um aus seinem Leben Verse zu machen, nicht um seine Persönlichkeit zu entwickeln und an den Kämpfen seiner Zeit teilzunehmen. Ein gutes Gedicht ist immer so eine gelegentliche, aber notwendige Häutung, ein Abfall der Individualität, nicht aber ein willkürliches Fabrikat. Geibel ist darum der Abgott der feinen Welt, der echte Salonsdichter, weil er mit viel schönen Worten im Grunde nichts sagt. Am deutlichsten geht dies aus seinen politischen Gedichten hervor. Ein faderes, grundsatzloseres, allgemeineres Gewäsch kann man sich nicht denken, so viel fein parfümierte Seife auch zur Wäsche verwendet wird. Am deutlichsten aber wird Geibels geistige Impotenz, wenn man sein dem König von Preußen gewidmetes Trauerspiel "König Roderich" liest. Das ist wirklich merkwürdig, lauter schöne Verse, aber kein Gedanke, kein Charakter, keine Vernunft im ganzen Stück. Weisser [Anm.: Adolf Weisser, 1815-1863, Führer der württembergischen Demokraten, Redaktor des seit 1830 in Stuttgart erscheinenden demokratischen "Beobachters". Vgl. Salomon, "Geschichte des deutschen Zeitungswesens", III/436 ff. und 617] hat mit gutem Instinkt den Geibel gleich bei seinem Auftauchen in Stuttgart im "Beobachter" fortwährend angebellt, ich weiß nicht, ob Du Dich dessen noch erinnerst. Weissers verbissene Wut war mir damals, ich muß gestehen, etwas unklar; jetzt aber kapier' ich sie desto besser. Und Du wirst's auch verstehen, man muß gegen diese liederliche, grundsatzlose politische Poesie gerade so zu Feld ziehen, wie gegen den Kölner Dombau der deutschen Einheiten und anderen politischen Firlefanz, womit man den Leuten ein x für ein u macht. Man müßte also bei Geibel das Musikalische der Form gelten lassen, aber die Inhalt- und Gedankenlosigkeit, das konventionelle Gesalbader namentlich der politischen Gedichte scharf hervorheben. Geibel ist ein Kerl, der von Lenz und Liebe faselt, der aber in keiner Sache weiß, was Trumpf ist, der namentlich bei allen tiefern und höhern Fragen nirgends weiß, wo er hält, dessen philosophisches Bewußtsein ungefähr auf dem christlich-deutschkatholischen Standpunkt der Liebe und Güte steht, und dessen politisches auf dem Standpunkt von: "Freiheit, die ich meine", welche Freiheit allerdings ihren Reigen nur am Sternenzelt führt und von der Erde so wenig weiß, als die Erde von ihr. [Anspielungen auf Schenkendorfs Lied "Freiheit" (1813)] Anknüpfungspunkte zwischen beiden Sammlungen, um eine kleine Parallele herzustellen, lassen sich genug finden. Man müßte natürlich über die Vergötterer des Geibel etwas herfallen, weil sich diese Kerle die Miene unparteiischer ästhetischer Beurteiler geben, dabei aber nur von politischen Rücksichten geleitet werden und alles, was nicht in ihren Kram taugt, entweder durch gänzliches Ignorieren oder sonst durch Schlechtmachen totzuschlagen suchen - aber: "Schlägst Du meinen Juden, schlag ich Deinen Juden" [Anm.: Joh. Peter Hebels Geschichte "Die zwei Postillone" im "Schatzkästchen". Vgl. Georg Büchmann: "Geflügelte Worte", 20. Aufl., Berlin 1900, S. 235/6], dächt ich.
Was Schnauffers Gedichte [Anm.:Karl Heinrich Schnauffer, 1822-1854. Schnauffer gab 1848 zu Rheinfelden "Neue Lieder für das teutsche Volk" heraus (vgl. Chr. Petzet: "Die Blütezeit der deutschen politischen Lyrik 1840-1850", München 1902, S. 475)] betrifft, so tut es mir leid, daß ich mich gerade hier darüber aussprechen muß, es könnte fast aussehen wie Brotneid, wenn ich die Besprechung derselben nicht mit dem Übrigen in Verbindung gesetzt wünsche, aber ich kann nicht umhin, meine Meinung offen zu sagen, Du kannst's hernach sieden oder braten. Schnauffer mag ein ganz prächtiger Kerl sein, von den besten politischen Grundsätzen, vom besten Willen etc., aber - ein Poet ist er nicht. Ich habe mich nie darüber ausgesprochen, weil er einer unserer Farbe ist, und es hat mich immer erlustiert, wenn sich der Mannheimer Ladenschwengel oder eine sonstige naive Jugend an den Schnaufferschen Gedichten begeisterte, - wenn's nur den Dienst tut; helf' was helfen mag! dacht' ich. Aber ihn in einer Zeitschrift zu besprechen, das geht doch wahrhaftig nicht; für Schnauffer ist es der größte Dienst, wenn man ihn im Dunkeln läßt, denn seine Poesie ist wirklich ein schreckliches Geschnauff. Es ist eben größtenteils toll gewordene versifizierte Prosa. Vom künstlerischen Beruf des Poeten hat er nicht die Ahnung. Es sind zwar die "Totenkränze" [Anm.: Die "Totenkränze" erschienen 1850] etwas besser als seine früheren Sachen. Aber wenn auch hie und da ein wohlklingender Vers oder ein ordentlicher Gedanke zum Vorschein kommt, so schwimmen sie in einer unendlichen Sauce von überschwenglichem Gefasel, und in den Gedichten, wo er den Volkston nachahmen will, fällt er geradezu ins Platte, wo er einfach werden will, wird er geradezu prosaisch. Ein einziges Gedicht ist hübsch: "Rebellentod"; alle übrigen tragen mehr oder weniger die oben genannten Fehler an sich und sind durchaus unkünstlerisch. Wenn Du ihn deshalb dennoch anführen willst, so halte ich für das Beste, Du beschränkst Dich mehr auf eine Anzeige und lässest das Gedicht "Rebellentod" abdrucken, hüllst aber die übrigen in einen wohlwollenden Nebel, sonst könntest Du Dir beim Herausholen dieser ungaren Kastanien aus dem poetischen Feuer die kritischen Finger etwas verbrennen. Im übrigen tu, was Dir gut dünkt, dixi et salvavi etc.
Was Deinen Plan betrifft, mich zu Dir einzuladen, so würde es mich, abgesehen von allem andern, freuen, eine Zeitlang mit Dir zusammen zu sein. Ob sich wegen literarischer Verhältnisse eine längere Abwesenheit von Zürich machen ließe? da müßte man erst sehen, was einem allenfalls in Bern zu Gebote stünde, und was man etwa von Zürich mit wegschleifen könnte. Da die Frage vorderhand noch nicht praktisch ist, so kann man das ein andermal erörtern. Apotheker Mayer [Anm.: Friedrich (Fritz) Ferdinand Mayer, geboren 1805 in Lorch, gestorben 1872 in Heilbronn, Teilnehmer an der Revolution 1848/49 in Heilbronn, Bruder des Arztes und Entdeckers des Gesetzes von der Erhaltung der Energie Julius Robert Mayer.] von Heilbronn war hier. Was die Kerl versimpelt sind, davon hat man gar keinen Begriff. Wir traktierten ihn als Simpel, er uns als Narren, in aller Freundschaft, versteht sich. Ich lebe hier verflucht einförmig und ohne alle geistige Anregung, daß ich oft des Teufels werden möchte, nicht einmal aufs Museum kann ich mehr, weil ich mein letztes Quartal nicht zahlen konnte, und mit den Flüchtlingen komm' ich fast gar nicht zusammen; mit Diezel [Anm.: Gustav Diezel, in Bayern an der Bewegung von 1848/9 beteiligt, floh in die Schweiz. 1849 ließ er in Zürich ein zweibändiges Werk erscheinen: "Bayern und die Revolution"], Weisser, Hausmann [Anm.:Julius Hausmann aus Blaubeuren kam im Juli 1849 als Flüchtling mit August Becher, Carl Mayer und Ludwig Simon nach Bad Horn am Bodensee. Hausmann kehrte später nach Württemberg zurück, um sich den Gerichten zu stellen] und Maule [Anm.:Maule taucht in weiteren Briefen Pfaus auf, ohne daß es bisher gelungen wäre, Näheres über ihn in Erfahrung zu bringen. Evt. Hinweise bitte an die Redaktion der LPB] hie und da. Aber das sind selbst Leimsieder gegenwärtig. Am meisten komm' ich mit Herwegh zusammen. Der ist einer von den wenigen "Freien", die alte Standpunkte überwunden haben, und die, sozusagen, auf dem nackten Boden der Natur gehen. Er ist der einzige, mit dem ich in geistigem Rapport hier stehe. Die andern stecken alle noch mehr oder weniger in der politischen Bodenlosigkeit. Für das Übersandte [Anm.: Geld, worum Pfau am 5. Mai gebeten hatte] danke ich Dir. Es fiel auf trockenen Grund und tat mir besonders gute Dienste, da mich mein verstauchter Fuß und die Notwendigkeit, das Bett zu hüten, ohne Dich in nicht geringe Verlegenheit gebracht hätte. Hast Du noch keine Nachricht wegen der schwebenden Schuld, die ich kontrahieren möchte? Tu, was Du kannst, denn das Wasser ist so hoch gestiegen, daß es mir gerade anfängt, ins Maul zu laufen. Meine Gläubiger fangen nämlich an, mich zu belagern, von Rechtsboten, Gerichtsweibeln und andern undemokratischen Personen zu sprechen, so daß ich nicht einmal ordentlich an meinem Buch fortschreiben kann, sondern mich größtenteils von meiner Wohnung fern halte, ein doppelter Flüchtling.
Du solltest Vogt veranlassen, daß er irgendwelche Bekenntnisse eines Reichsregenten von sich gäbe, worin er mit der Vergangenheit abmachen, worin er ganz einfach sagen würde, es sei wahr, er sei sich auch noch nicht ganz klar gewesen, so gut wie alle Übrigen, er habe geglaubt, daß auf dem alten Wege noch etwas zu gewinnen sei. Die Erbärmlichkeit der Kerls, die die alten Zustände verewigen wollen, habe ihn aber am Ende aufgeklärt etc. Er hätte dabei die schönste Gelegenheit, die elenden Zustände und das armselige Pack tüchtig zu geißeln. Er müßte aber natürlich mit der Vergangenheit vollkommen brechen. Dann hätte er aber gewonnen Spiel, und sie könnten ihm nicht mehr nachsagen, er wolle zwischen zwei Wassern schwimmen, und [zu setzen: um] nach Umständen in jedem zu fischen. Hier behaupten sie, die Reichsregentschaft und die Nationalversammlung wolle sich bei der nächsten Revolution wieder als rechtlicher Zentralpunkt konstituieren etc. Das von wegen der Parlamentskrankheit. Du könntest, wenn Du an Kolatschek schreibst, ihm zugleich einige Worte betreffs meiner schreiben, damit ich nicht als Supplikant mit meinen Artikeln zu ihm komme, denn davon bin ich kein Freund, und ich kenne den Kerl nicht. Wenn Du ihm aber schreibst, er solle sehen, von mir Beiträge zu bekommen, so hat es ein anderes Gesicht. Ob er übrigens so weit gehen will als ich in meinen Artikeln, ist eine andere Frage. Ich würde natürlich alles revolutionäre Geschrei beiseit lassen und ganz auf dem wissenschaftlichen Standpunkt bleiben, denn so lang keine Revolution da ist, ist auch das Geschrei unnötig, aber dennoch weiß ich nicht, ob er z. B. einen Artikel gegen "das Recht der Revolution", jenen doktrinären, lendenlahmen Artikel der deutschen Monatsschrift [Anm.: C. Fortlage: "Über das Recht zur Revolution" in Kolatscheks "Deutscher Monatsschrift", März 1850], aufnehmen würde. Nun, das wird sich zeigen. Indessen lebe wohl. Grüße Deine Frau. Sei herzlich gegrüßt und schreibe bald Deinem
L. Pfau.
Meine Adresse ist: bei Herrn Melzian, Steingasse Nro. 285.
[Ohne Adresse]
Quelle: Ludwig Pfau Blätter. Ausgabe 1. Heilbronn 1993, mit folgendem Hinweis:
1932 veröffentlichte der Historiker Werner Näf an entlegener Stelle Briefe von Ludwig Pfau und Carl Vogt aus den Jahren 1850 und 1851, die bis vor kurzem der Pfau-Forschung weitgehend unbekannt geblieben sind, obwohl sie wichtige Quellen zur Biographie Pfaus und zur Situation der Flüchtlinge in der Schweiz darstellen. (Nach der deutschen Revolution von 1848/49. Briefe von Ludwig Pfau an Carl Vogt aus dem Exil. Mitgeteilt von Werner Näf. In: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte. 12 (1932) S. 166-209. - Abgedruckt sind zwei Briefe Pfaus (vom 5. Mai und vom Juni 1850) sowie vier Briefe Vogts (vom 17. Dezember 1850, 28. März, 28. Mai und 6. August 1851).)
Zwei dieser Briefe, von Pfau an den 1819 geborenen württembergischen "Achtundvierziger" Carl Mayer aus Esslingen, der sich nach der Niederschlagung der Revolution von 1849 und anschließender Flucht in die Schweiz als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gladbachschen Erziehungsinstitut in Wabern bei Bern durchschlug, werden im folgenden neu zugänglich gemacht. Der Wiederabdruck erfolgt in der Orthographie des Näfschen Erstdrucks von 1932, die Anmerkungen von Näf wurden übernommen und punktuell ergänzt. (Ergänzungen der LPB sind eckig geklammert.)
Zur Überlieferung der Briefe schreibt Näf in der Einleitung zur Edition: "Aus den Tiefen eines Schrankes ist neulich ein reiches Erbe jener Zeit [Anm.: gemeint: das deutsche Flüchtlingswesen in der Schweiz vor und nach 1848] zutage gefördert worden: Annähernd 200 Briefe deutscher Flüchtlinge an Carl Mayer aus Eßlingen. Sie vermitteln eine Fülle von Einsicht in Leben und Gedankenwelt bewegter und für ihre Zeit charakteristischer Persönlichkeiten, deren Namen und zum Teil recht blaß gewordene Bilder die Geschichte der Politik, der Wissenschaft, der Literatur bewahrt: Ludwig und Heinrich Simon, Franz Raveaux und Karl Nauwerck, Wilhelm Loewe und Stephan Born, Johannes Scherr und Ludwig Pfau, Eduard Desor und Carl Vogt. Die Enkelin des Adressaten, Fräulein Margarete Rustige in Stuttgart, hat diesen Schatz treulich und verständnisvoll gehütet; ihrer Liebenswürdigkeit verdanke ich - außer wertvollen biographischen Angaben über Carl Mayer - Einsicht in diese Briefe und die Erlaubnis, Abschriften davon zu nehmen." (Ebd., S. 166-167)
Die Originale wurden seinerzeit dem Reichsarchiv in Potsdam übergeben (Signatur: A VI 1 Ma, Nr. 2) und befinden sich heute [Anm.: Stand 1990!] im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam, die von Näf veranlaßten maschinenschriftlichen Abschriften liegen im Historischen Seminar der Universität Bern.
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