Ludwig Pfau (1821-1894)

Volksweisen.

V.

»Die Beerlein am Baume,
Die hängen in Ruh',
Und wer sie will holen,
Braucht Flügel dazu.«

Die Herzlein, die hängen
Nicht hoch und nicht weit,
Die kann man wohl greifen
Mit Händen allzeit.

»Ein Mädel, das schlau ist
Und flink wie der Wind,
Das fangen die Buben
Noch nicht so geschwind.«

Ein Bursche der Witz hat
Und Keckheit genug,
Der rupft wie ein Stößer
Die Täubchen im Flug.

»Mein Sinn ist ein Rößlein,
Das springet gar frei;
Kein Reiter holt's ein, und
Wie stolz er auch sei.«

Die Rößlein zu zähmen,
Das ist mir bekannt;
Die scheusten, die fressen
Zuletzt aus der Hand.

»Mein Herz ist ein Schlößlein,
Ein Sprüchlein steht drauf;
Den Schlüssel hat Keiner,
Kein Schlosser bringt's auf.«

Den Schlüssel, den find' ich,
Der liegt nicht im Rhein –
Und mein ist das Schlößlein,
Das Rößlein ist mein.


Ludwig Pfau: Gedichte. 4., durchgesehene und vermehrte Auflage. Stuttgart: Bonz 1889. S. 131-132.
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