Ludwig Pfau (1821-1894)

Dichterseele.

Die Dichterseele gleichet einem Kinde,
Deß Mutter starb, da es zur Welt gekommen;
Nun hat die Not es an die Brust genommen,
Ach! eine karge Amme, eine blinde.

Da weint das Kind: daß es die Mutter finde,
Streckt es die Ärmchen aus so schmerzbeklommen!
Doch nachts, wenn alles schläft und nur die frommen
Weltaugen wachen, naht der Genius linde.

Der hält das Kind hoch in des Himmels Prangen;
Da beugt die große Mutter mild sich nieder
Und küßt es zärtlich auf die bleichen Wangen.

O süßes Träumen, seliges Umfangen!
Da lallt das Kind die wunderbaren Lieder
Und bleibt zuletzt am Hals der Mutter hangen,


Ludwig Pfau: Gedichte. 4., durchgesehene und vermehrte Auflage. Stuttgart: Bonz 1889. S. 260.
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