Ludwig Pfau (1821-1894)

Der Tag des Herrn.

1851.

Der Tag des Herrn, das ist ein Tag,
Der sich erschließt wie eine Blüte,
Da jede Seele hoffen mag,
Und jauchzen möchte jed' Gemüte.
Ein Duft und Schein ist rings verbreitet,
Der kleinste Halm treibt Ähren gern,
Weil still der Geist der Weihe schreitet
Durch alles Feld am Tag des Herrn.

Da, wenn das Ird'sche grollend wich,
Beginnt, was himmlisch ist, zu klingen;
Die Glocken rührten selber sich,
Vergaß' der Glöckner sie zu schwingen:
Denn wo, daß er die frohste Kunde,
Der Liebe stumme Sprache, lern',
Sich schüchtern findet Mund zu Munde –
Da läutet sanft der Tag des Herrn.

Der Tag des Herrn, das ist ein Tag,
Der macht zum hellen Feierklange
Der Arbeit dumpfen Hammerschlag
Und löst den Seufzer im Gesange:
Denn wo in eine Brust voll Mühe
Nach langer Nacht der Morgenstern
Heraufführt eine goldne Frühe –
Da steigt empor der Tag des Herrn.

Und wenn durch eines Lenkers Hirn
Der Wollustblitz der Wahrheit zittert;
Und wenn, den Staub noch auf der Stirn,
Ein Knecht die Kette jäh zersplittert;
Und wenn der alten Knechtschaft Erben,
Die Völker, aufstehn nah und fern,
Sich ihre Freiheit zu erwerben –
Das ist der schönste Tag des Herrn.

Der Tag des Herrn, das ist ein Tag,
Ein Tag der Wonnen und der Wunden;
Der harrt auf keinen Glockenschlag
Und ist an keine Frist gebunden:
Wo Augen glänzen, Herzen klingen
Und Wurzeln schlägt ein edler Kern,
Und wo die Geister sich erschwingen –
Da ist der wahre Tag des Herrn.


Ludwig Pfau: Gedichte. 4., durchgesehene und vermehrte Auflage. Stuttgart: Bonz 1889. S. 365-366 .
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